Goethe und Nünberg - einige Schlaglichter

Im Museumsshop in Weimar kann man eine Plakette kaufen mit der Aufschrift: "Hier war Goethe - nie". Für die Stadt Nürnberg trifft diese Aussage jedenfalls nicht zu. Goethe war in Nürnberg, ganze vier Mal, wenn auch immer nur auf der Durchreise und deshalb auch nicht besonders lang (im Unterschied etwa zu den böhmischen Bädern, in denen er insgesamt mehrere Lebensjahre verbracht hat). Im Folgenden sollen anhand einiger Schlaglichter die vielfältigen Beziehungen zwischen Goethe und Nürnberg beleuchtet werden; es wird sich zeigen, dass sich darin auch ein gutes Stück seines Lebens widerspiegelt.

An erster Stelle darf hier der Hinweis nicht fehlen, dass Goethe die große geschichtliche Bedeutung der freien Reichsstadt Nürnberg durchaus schon von klein auf bewusst war. Dies zeigt sich zum Beispiel in "Dichtung und Wahrheit" in der sehr ausführlichen Schilderung der Krönungsfeierlichkeiten anlässlich der Kaiserkrönung Josephs II. am 3. April 1764 in Frankfurt; der junge Goethe wusste sehr wohl darüber Bescheid, dass eigens zu diesem Anlass die Reichsinsignien von Nürnberg nach Frankfurt gebracht wurden.
Auch die große kulturelle Vergangenheit Nürnbergs blieb ihm nicht verborgen. Als sein Mentor Johann Gottfried Herder in Straßburg das Interesse an volkstümlicher Dichtung in ihm weckte, stieß er auf Hans Sachs, dessen Knittelverse er keineswegs nur in der Faustdichtung aufgriff, sondern zum Beispiel auch im "Jahrmarktsfest zu Plundersweilen" aus dem Jahr 1773, in dem dann konsequenterweise auch "Krämer aus Nürnberg" ausdrücklich genannt werden.

Leider ist die Rolle, die Nürnberger Persönlichkeiten in Goethes Umfeld gespielt haben, nicht zwangsläufig eine positive. Goethes späterer Schwager August Vulpius, der es nach Abschluss seiner Studien in Jena und Erlangen zunächst schwer hatte, beruflich Fuß zu fassen, war 1788 Privatsekretär bei einem Freiherrn zu Soden in Nürnberg. Dieser stand im Ruf, extrem geizig zu sein, weshalb er von seinem Privatsekretär verlangte, gleichzeitig auch die Aufgaben eines Lakaien zu übernehmen. Dessen Stolz ließ das jedoch nicht zu, und so wurde er kurzerhand auf die Straße gesetzt. Johann Gottfried Herder, der zu dieser Zeit auf der Rückreise aus Italien gerade durch Nürnberg kam, nahm sich seiner an und bat Goethe um Unterstützung für den jungen Mann; Goethe war jedoch unmittelbar zuvor schon durch die berühmte Bittschrift Christianes auf die Notlage ihres Bruders aufmerksam geworden und hat sich dann auch redlich bemüht, eine passende Stelle für seinen späteren Schwager zu finden. Nicht zuletzt dank der finanziellen Unterstützung Goethes konnte Vulpius mit seiner Schriftstellerei fortfahren und wurde schließlich mit der Geschichte vom Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini zu einem äußerst erfolgreichen Verfasser von Trivialromanen.

Damit ist nun auch schon ein wichtiges Stichwort für die nähere Beziehung zwischen Goethe und Nürnberg gefallen, nämlich das Stichwort Italien. Alle vier Aufenthalte Goethes in Nürnberg stehen in Zusammenhang mit einer Italienreise Goethes bzw. - im letzten Fall - mit einer Reise in die Schweiz (die geplante Weiterreise nach Italien musste damals wegen der Kriegsgefahr aufgegeben werden). Lassen wir also die vier Aufenthalte Goethes in Nürnberg kurz Revue passieren.

Als Goethe schweren Herzens im Juni 1788 nach zweijährigem Italienaufenthalt in die deutschen Gefilde zurückkehrte, unterbrach er die Rückreise vom 14. bis zum 17. Juni zu einem dreitägigen Aufenthalt in Nürnberg, den er - völlig ungestört, durch ein Pseudonym geschützt - für intensive Besichtigungen nutzte, um sich einen ersten Eindruck von der Stadt zu verschaffen. Am 18. Juni abends langte er dann schließlich in Weimar an.

Da die Italiensehnsucht ansteckend wirkte, machte sich bald nach Goethe auch Herzogin Anna Amalia auf den Weg. Als ihre Rückkehr anstand, bot Goethe an, sie abzuholen; ein Angebot, das vom Hof sofort mit Begeisterung aufgegriffen wurde. Dabei fiel Goethe die Rückkehr nach Italien zu diesem Zeitpunkt gar nicht leicht, da er inzwischen mit Christiane und ihrem kleinen Sohn August ganz neue Wurzeln in Weimar geschlagen hatte. Bei einem kurzen Zwischenaufenthalt in Jena schrieb er an Herder, den er gleichzeitig bat, sich um seine kleine Familie zu kümmern: "Ich gehe diesmal ungern von Hause, und dieser Stillstand in der Nähe macht mir die Sehnsucht rückwärts noch mehr rege." Nach einigen schwierigen Gesprächen in Jena, wo es zu Studentenunruhen gekommen war, fuhr er schließlich mit einer Kutsche, die ihm der Herzog zur Verfügung gestellt hatte, ohne weitere Unterbrechung nach Nürnberg, wo er insgesamt sieben Stunden - von 9:30 Uhr bis gegen 17:00 Uhr - verbrachte. Das Wetter war schlecht, es regnete und schneite. "Er hielt sich nur wenige Stunden auf, um einige Gemälde Dürers zu besichtigen und ein paar Bücher zu kaufen", so die Überlieferung. Wilhelm Bode schreibt dazu: "In Nürnberg blieb man sieben Stunden; die noch vorhandenen Gemälde Albrecht Dürers - sie hingen zumeist im Rathause - wurden liebreich betrachtet. Auch die Sebaldskirche und die Bildersammlung des Herrn v. Murr wurden besucht. Das anfangs schöne Wetter verwandelte sich jetzt in trübes und kotiges." Immerhin dürfte ihm der Aufenthalt in Nürnberg ein wenig Ablenkung vom Ärger in Jena verschafft haben. Auf einen ursprünglich geplanten Abstecher nach Ansbach, zur Mutter und Schwester seines fränkischen Urfreundes Karl Knebel, verzichtete er angesichts des schlechten Wetters und fuhr stattdessen direkt nach Augsburg und danach weiter in Richtung Italien.

Nach einem weiteren Aufenthalt in Venedig im Kreis der Herzogin Anna Amalia und ihres Gefolges kehrte die Reisegesellschaft schließlich im Juni 1790 nach Weimar zurück. Und auch dabei kommt es wieder zu einem Aufenthalt in Nürnberg, dieses Mal vom 12. bis zum 15. Juni 1790. Dieser Aufenthalt ist zugleich von einem tragischen Ereignis überschattet. Goethe hatte sich noch von Verona aus mit seinem fränkischen Urfreund Karl Knebel in Nürnberg verabredet; dieser sollte eigens von Ansbach aus dorthin kommen, wo er sich damals gerade mit seiner Mutter, seiner Schwester Henriette und seinem jüngsten Bruder Max aufhielt. In Augsburg, kurz vor der Ankunft in Nürnberg, erhielt Goethe in einem Brief Knebels die erschreckende Nachricht vom Selbstmord des Bruders Max. Dieser war selbst gerade erst von einer Italienreise zurückgekehrt, bei der er seinen Herrn, den Markgrafen von Ansbach, und dessen Geliebte als Hofbediensteter begleitet hatte. Als die beiden Brüder in einem Wäldchen bei Ansbach spazieren gingen und Karl Knebel gerade nach Anleitung Goethes einige merkwürdige Moose näher in Augenschein nahm, knallte hinter ihm ein Schuss. Sein Bruder hatte sich nach dem Vorbild Werthers aus einer melancholischen Stimmung heraus das Leben genommen.
Als Goethe nun am 12. Juni abends um 22:00 Uhr vor dem Gasthof zum Roten Roß in Nürnberg anlangte, wurde er bereits von Knebel und dessen Schwester Henriette erwartet; für die beiden war der gemeinsame Aufenthalt mit Goethe und der Hofgesellschaft in Nürnberg sicherlich eine willkommene Abwechslung. Es kam zu manchem ernsten Gespräch, wobei es auch darum ging, den Geschwistern Knebel den Weg nach Weimar oder Jena zu ebnen, da sie es in Ansbach nach dem tragischen Ereignis nicht mehr aushielten. Daneben kamen aber auch die "Gemälde und Merkwürdigkeiten" Nürnbergs nicht zu kurz: ausdrücklich genannt werden wiederum das Rathaus (mit den Dürer-Gemälden, die es Goethe offenbar besonders angetan hatten), die Sebalduskirche und die Burg. Vielleicht traf Goethe ja bei dieser Gelegenheit die "alte, würdige Castellanin", von der er noch viele Jahre später, nämlich am 9. August 1819, in einer "niedlichen Anekdote" den Fräulein von Egloffstein erzählte. Diese, also die Kastellanin, habe in einer Gesellschaft von jungen Leuten, die sich mit ungeziemender Heftigkeit und Unart über die Schmeichler und Heuchler äußerten, plötzlich hinter ihrem Kaffeetisch mit zusammengeschlagenen Händen in vollem Unmuth ausgerufen: "Ach, wie lieb' ich die Schmeichler und Heuchler!" Die kleine Szene hatte sich Goethe offenbar so tief eingeprägt, dass sie ihm noch Jahre später gegenwärtig war. Am 15. Juni trennte man sich schließlich von Karl und Henriette Knebel in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Die Hofgesellschaft kehrte am 18. Juni nach Weimar zurück, wo Goethe endlich wieder Christiane und August in die Arme schließen konnte.

Der letzte Aufenthalt Goethes - und zugleich mit neun Tagen der längste - fand vom 6. bis zum 15. November 1797 in Begleitung Johann Heinrich Meyers statt, mit dem Goethe zum dritten Mal die Schweiz bereist hatte. Goethe befand sich auf dieser Rückreise zunächst in düsterer Stimmung. Aus Tübingen schrieb er Christiane: "Ich kann aber auch wohl sagen, daß ich nur Deinet- und des Kleinen willen zurück gehe. Ihr allein bedürft meiner, die übrige Welt kann mich entbehren." Diese Stimmung begann sich jedoch deutlich zu heben, sobald Goethe die fränkischen Gefilde erreichte.
Als die Reisegesellschaft am 6. November nach Nürnberg kam, gewann sogar gute Laune die Oberhand. Denn Knebel war wieder einmal in Nürnberg, und so beschloss Goethe, den Aufenthalt zu verlängern, um sich der Gesellschaft Knebels sowie der öffentlichen und privaten Kunstsammlungen zu erfreuen, die er bei seinen früheren Aufenthalten schon ganz gut kennengelernt hatte. In den vornehmen Familien Nürnbergs war er ein gefragter und gefeierter Gast und wurde zum Beispiel von seinem Gastgeber Paul Wolfgang Merkel mit Nürnberger Bratwürstchen verwöhnt. Zugleich kam er aber auch wieder mit der literarischen Welt in Berührung: Denn es war in Nürnberg, wo er die ersten Belegexemplare von "Hermann und Dorothea" erhielt; vermutlich bekam er bei seinen Nürnberger Gastgebern auch erste Kommentare zu diesem Werk zu hören, über die aber leider nichts Näheres bekannt ist. Daneben führte er vertrauliche Gespräche mit Knebel. Dieser hatte sich nämlich entschlossen, seiner fränkischen Heimat endgültig den Rücken zu kehren; in Weimar wollte er Luise von Rudorff, eine Geliebte des Herzogs, heiraten und deren Sohn von Karl August als seinen eigenen Sohn aufzuziehen. Goethe sagte ihm dabei seine volle Unterstützung zu.
Dieser letzte Besuch Goethes in Nürnberg fand aber auch in einer politisch aufgeheizten Atmosphäre statt. Schließlich war Nürnberg das Zentrum des Fränkischen Kreises im Deutschen Reich. Es ging damals immerhin um wichtige Weichenstellungen wie die Entschädigung der linksrheinischen Fürsten, die Säkularisierung der geistlichen Territorien und eine geplante Verfassungsreform. Am 11. November fand im Nürnberger Schießhaus ein großes Festessen statt, bei dem die Vertreter aller fränkischen Gebiete zugegen waren; Goethe verfolgte dieses Ereignis mit großem Interesse und zählt die fränkischen Gesandten in seinen Aufzeichnungen alle auf, "als katalogisiere er die Bestände eines Museums", so Nicholas Boyle in seiner umfangreichen Goethe-Biographie. Boyle fasst Goethes letzten Aufenthalt in Nürnberg folgendermaßen zusammen: "Nürnberg war eine liebenswürdige und angenehme Stadt, die glücklich in ihrer reichen Vergangenheit lebte: Früher als anderswo schien sich hier Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Aber in der Welt draußen wurde es kälter."
Letztere Bemerkung ist auch durchaus wörtlich zu nehmen. Nachdem Goethe, Meyer und Goethes Diener Geist am 15. November zur letzten Etappe ihrer Heimreise aufgebrochen waren, kehrten sie bei heftigem Schneefall nach Thüringen zurück.

Die Stimmung, in der Goethe sich während dieses letzten Aufenthaltes in Nürnberg befand, spiegelt sich vielleicht am besten in einem Brief an Friedrich Schiller wider, den er am 10. November 1797 von Nürnberg aus schrieb:

Die zitierten Verse stammen aus Voß' Gedicht "Wintermahl", das ihm vermutlich von Knebel nach Nürnberg mitgebracht wurde.

Nach 1797 hat Goethe Nürnberg nicht mehr besucht. Er hatte dort jedoch offenbar sehr gute, freundschaftliche Kontakte geknüpft, wie der Austausch von Briefen und Grüßen über Jahrzehnte hinweg belegt. Und wie so oft bei Goethe, wurden diese Kontakte auch eifrig dazu genutzt, um sich auf diesem Weg nützliche oder auch kostbare Dinge zu beschaffen. Ein typisches Beispiel dafür ist der folgende Brief an den schon erwähnten Paul Wolfgang Merkel:

Es ist jedoch nicht nur ein Erdglobus, den Goethe sich aus Nürnberg, der Stadt Martin Behaims, kommen lässt. Am 18. Dezember 1812 schreibt er an Johann Heinrich Meyer - sein Begleider beim letzten Nürnberg-Aufenthalt:

Offenbar haben die wiederholten Besichtigungen der Sebalduskirche ihren bleibenden Eindruck bei Goethe hinterlassen. Selbst den gefrorenen Kadaver eines Tigers lässt sich Herzog Karl August - durch Vermittlung Goethes - aus Nürnberg kommen. Nicht zu vergessen sind schließlich auch Obst und Gemüse, vor allem der Blumenkohl aus Nürnberg, der ebenfalls im umfangreichen Briefwechsel Goethes lobend Erwähnung findet. Seine Geschäftsbeziehungen mit Nürnberg beschränkten sich also keineswegs auf die Bestellung von Druckerzeugnissen bei der Buchhandlung Schrag sowie auf den Austausch von Mineralien und Majoliken.

Auch der Magistrat der Stadt Nürnberg wusste Goethe als bedeutende Persönlichkeit zu schätzen und lud ihn noch 1828, also wenige Jahre vor seinem Tod, zu einem bedeutenden Fest anlässlich des Besuchs des bayerischen Königs in Nürnberg ein. Goethe kann der Einladung zwar in seinem vorgerückten Alter zu seinem großen Bedauern nicht mehr folgen, bedankt sich jedoch mit einem ausführlichen Brief, in dem er auch noch einmal auf seine vier Aufenthalte in Nürnberg zurückblickt.

Der Brief dokumentiert auf eindrucksvolle Weise, dass Goethe sich bis ins hohe Alter hinein nicht nur gerne an Vergangenes erinnert hat, sondern dass er bis zuletzt auch neue, zukunftsweisende Entwicklungen interessiert zur Kenntnis nahm. Für ihn spielte "das alterthümliche Nürnberg" jedenfalls in der Geschichte des Deutschen Reiches eine bedeutende, bleibende Rolle.